Brief an die Orgel
Hallo, liebe Orgel, liebe Eule-Orgel in der Stadtkirche zu Forst in der Lausitz.
Ich gratuliere Dir zu Deinem Geburtstag. 50 Jahre bist Du jetzt alt. Ein gutes Alter für eine Orgel. Alles Gute
für Deine Zukunft.
Erinnerst Du Dich an meinen ersten Besuch bei Dir in der Orgelbauwerkstatt in Bautzen?
Du lagst und standest noch in vielen fertigen und unfertigen Einzelteilen herum. Ein Anblick, welcher eine gewisse
Ungeduld hervorrief. Der Wunsch, dass Du bald fertig sein mögest und endlich bei uns in Forst, in der Stadtkirche
St. Nikolai, Deine Stimmen erklingen lassen könntest. Es hat dann noch ein Weilchen gedauert. Aber eines Tages
warst Du da. In einem Eisenbahnwaggon; mit der Stadtbahn direkt bis an die Kirche gefahren. Unvorstellbar, dass Du in
diesem fahrbaren Kasten namens Güterwagen zu uns gekommen warst. Wie mochtest Du aussehen?
Wir öffneten die Waggontür, - und - wir sahen Dich nicht!
Wir sahen Kisten und irgendwelche Behälter mit furchtbar vielen kleinen Bauteilen. Da gab es die
vielfältigsten Formen. - Und das soll klingen? Und daraus soll eine Orgel entstehen? Eine Orgel ist doch
g r o ß! Ja, später warst Du groß. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, bist Du 8,15 Meter
hoch, in Deinem mittleren Pfeifenturm vom Hauptwerk. Aber zunächst warst Du Kisten und Kleinteile.
Nun, wir hatten Herrn Noack, ein Mitglied des Gemeindekirchenrates, aus der Blumenstraße; genannt: "Pferdenoack"
Die großen und schweren Kisten haben wir auf einen Tafelwagen von Herrn Noack gepackt und dann um die Ecke durch
den Haupteingang in die Kirche gebracht. Und da wurde uns klar, dass wir offenbar d o c h ein größeres
Bauwerk vor uns hatten. Es waren eine Menge Kisten und andere Teile. Die Kisten wurden links und rechts in die
Treppenaufgänge gebracht, der Spieltisch und große Pfeifen in den Kirchenraum. Und dann hatte ich die Idee,
die so genannten Kleinteile zu wohlgeformten, ordentlichen Haufen auf der Empore zu sortieren.
Eines Tages kamen dann auch die Orgelbauer. Wir gingen den rechten Treppenaufgang hinauf. Ich öffnete die Tür
zur Empore und die Orgelbauer blieben stehen, schauten sich meine sortierten Teile an und der Anführer der
Orgelbauer, der Chefintonateur Paul Weiße sah mich mit strengem Blick an und fragte sehr barsch: "Wer war das?!"
Ich sagte etwas kleinlaut: "Ich". Herr Weiße wandte sich an seine Kollegen und sagte: "So ein Mist! Jetzt
müssen mir glei anfang zu arbeidn." Dann sah er mich an und erklärte mir, dass sie normalerweise diese
ungeliebte Arbeit des Sortierens selbst machen müssten. Ich hatte mir ein Lob verdient. Na ja, Du
weißt, dass trotzdem noch allerlei Vorarbeiten zu machen waren.
Das Gehäuse war bis auf die Abschlussrahmen der Pfeifentürme im Prospekt fertig. Das war eine Arbeit der
Tischlerwerkstatt Kranz aus Forst. Es war für diese Firma ein ehrenvoller Auftrag, denn wann kommt eine
Tischlerwerkstatt schon dazu, für eine so große Orgel das Gehäuse zu bauen! Beim Aufbau habe ich
mitgeholfen. Es stellte sich heraus, dass Meister, Geselle und Lehrling nicht ganz schwindelfrei waren. Die dritte
Seitenwand links und rechts musste ich von außen allein justieren. Die Tischler waren innen; da merkte man
die Höhe nicht so sehr. Und später habe ich Dir dann die Dielenbretter ganz oben und vor allen Dingen ganz
vorn aufgenagelt. Da musste man auch schwindelfrei sein.
Bei den Orgelbauern durfte ich auch helfen. Eine Deiner Leitern im Inneren ist von mir gefertigt! Beim Einbau des
Spieltisches habe ich dann ein neues Maß kennengelernt: Erst hatten wir dieses schwere Ungetüm auf zwei
Balken von unten auf die Empore gezogen. Dann auf zwei starken Bohlen auf das Podium direkt vor das Loch im
Gehäuse, wohin der Spieltisch gehörte. Das war schwerste Maßarbeit, weil links und rechts nur ein paar
Millimeter Spielraum waren. Als der schwere Spieltisch fast an Ort und Stelle war und es um Zehntelmillimeter ging,
ertönte von innen die Stimme von Paul Weiße: "Und jetzt noch ein gespaltenes Kälberhaar nach links!"
Das war es dann. Der Spieltisch war an seinem vorgesehenen Platz.
Das Anschließen der Abstrakte war Spezialarbeit von einem Orgelbauer, der eine ruhige Hand und Geduld hatte. Diese
schmalen Holzleistchen (Abstrakte - abstrahieren - abziehen) waren sehr empfindlich. Wenn man sie zu hart anfasste,
zerbrachen sie.
Das Verhältnis zwischen den Orgelbauern und mir war sehr gut und freundschaftlich. Sie hatten gemerkt, dass ich
nicht zwei linke Hände hatte. Einmal hat mich Paul Weiße sogar in die Kunst des Intonierens eingeweiht. Eine
Deiner Pfeifen ist von mir zu ihrem charakteristischen Klang gebracht worden. Das war eine sehr große
Auszeichnung und hat mich sehr stolz gemacht. Beim Stimmen musste ich natürlich öfter helfen, nachdem
die Orgelbauer gemerkt hatten, dass mein Gehör fein genug dafür war und dass ich auch mit Stimmeisen und
Stimmhorn umgehen konnte.
Am Tag vor der Einweihung kam ich gegen 13 Uhr in die Kirche und fand die Orgelbauer am Ende ihrer Kräfte vor. Sie
hatten fast die ganze Nacht durchgearbeitet. Mich erwartete eine üble Aufgabe. "Kantor, Du musst die
Pedalmixtur stimmen, wir sind dafür alle zu müde. Es reicht nur noch zum Tastenhalten."
Vier Orgelbauer legten sich zum Schlafen nieder.
Der jüngste Orgelbauer saß unten am Spieltisch und hielt mir die notwendigen Tasten zum Stimmen der Pfeifen.
Ich habe 1 und eine halbe Stunde gebraucht. Und danach waren die anderen Orgelbauer wieder einigermaßen wach. Sie
haben dann noch irgendwo eine grüne Girlande aufgetrieben, um Dich ein bisschen für die Einweihung zu
schmücken.
Und dann kam der große Tag. Die Türen zum Spieltisch waren abgeschlossen. Nach dem feierlichen
Einweihungsspruch gab mir der Firmenchef den Schlüssel, ich habe aufgeschlossen, den Motor angemacht und dann hast
Du zum ersten Mal öffentlich Deine Stimmen erklingen lassen. Die Orgelbauer und ich haben dabei ein bisschen
geweint!
Orgel, Du hast einen stolzen Klang!
Und Dein äußerer Anblick ist wie Du: Ohne Schnörkel, von sinnvoller Struktur und edler
Linienführung. Ich mag Dich.
Ich habe später viele Deiner Schwestern spielen dürfen; auch die von berühmten Orgelbauern: Die
Hildebrandorgel in Lahm (zwischen Bamberg und Coburg), in Norddeutschland verschiedene Arp-Schnitger-Orgeln, in Belgien
die großen Orgeln in Antwerpen, Gent und Brügge, die große Orgel im Leipziger Gewandhaus, die
Riesenorgel in der Gedächtniskirche in Speyer und schließlich etliche Silbermannorgeln, auch die in der
Dresdner Hofkirche und im Freiberger Dom.
Und dann kam ich nach 40 Jahren wieder zu Dir und fühlte mich wieder zu Hause. Du brauchst Dich nicht zu
verstecken, Du kannst Dich hören lassen, Du bist vielen namhaften Orgeln ebenbürtig. Du bist einmalig. Du
bist keine Kopie. Du bist unverwechselbar Du, ob Du mit zarter Stimme singst oder machtvoll und glänzend Dein
volles Werk erschallen lässt.
Inzwischen hattest Du Dein Rückpositiv erhalten, aber wir waren uns sofort wieder vertraut. Und jetzt komme ich zu
Deinem 50. Geburtstag wieder zu Dir. Du hast Dein letztes fehlendes Register bekommen, die Trompete im Hauptwerk. Ich
bin gespannt auf Deinen jetzt endlich kompletten Klang. Eigentlich kann die Trompete Deinen stolzen Klang nur noch mehr
bestätigen. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, liebe Orgel. Ich habe Dich mit aufgebaut und Dich mit zum
Klingen gebracht, ich habe viele Werke mit Dir gespielt, als Du die sogenannte erste Baustufe hinter Dir hattest. Ich
habe Dich wiedergesehen und wieder gehört mit Deinem Rückpositiv. Und jetzt, nach 50 Jahren finde ich Dich
vollendet vor.
Wir haben in der Zwischenzeit viel erlebt, jeder das Seine. Wir werden am 12. Juli zusammen ein Konzert geben. Du
singst, ich spiele. Ich freue mich auf Dich.
Nochmals viele gute Wünsche für Dich und auf Wiedersehen - EULE-ORGEL.
Dein erster Organist Manfred W. Rothe